--------------------------------
Stellt euch vor, euer gesamtes Leben verändert sich innerhalb eines Tages. Eure Freunde vergessen dich, du lebst in einem fremden Land, gehst auf eine fremde Schule und du vermisst alles von zu Hause. Ein furchtbares Leben, wie du vielleicht denkst – und ja- es ist furchtbar. Niemanden, an dem du dich ausheulen könntest, wenn du mal wieder eine grausame Note nach Hause gebracht hast, niemand, mit dem du einfach mal über all deine Sorgen reden könntest und niemand, der dir hilft, wenn du sie brauchst. Furchtbar, nicht?
Kapitel 1
„Schön, Claire“, sagte Marc und legte dem Mädchen den Arm um die Schultern, „du hast Talent.“ Claire schaute ihren Bruder kurz an, ehe sie wieder mit schnellen Bewegungen am Computer weitertippte. „Muss ich ja. Sonst schmeißen die mich bei der Schülerzeitung noch raus.“ Sie konzentrierte sich und heftete den Blick wieder auf den flimmernden Bildschirm. „Ach, da schaffst du schon, Liebes“, sagte der Bruder sanft, „du weißt, ich helfe, wo es nur geht.“ Claire räkelte sich. „Kann schon sein“ Müde gähnte sie und klickte mit der kleinen Maus auf das rote Kreuz im oberen Bereich des Bildschirmes. „Ich belasse es für heute. Ich bin ziemlich müde.“ Die Arbeiten für die Zeitung können ruhig bis morgen warten. , dachte sie und stand von dem kleinen Holztisch ihres Bruders - und gleichzeitig Erziehungsberechtigten – auf. „Magst du noch einen Tee?“ Marc schob den Stuhl hinter ihr an den Tisch und fuhr den Computer herunter. Claire schüttelte den Kopf. „Es ist schon spät und ich denke, es ist besser, morgen fit zu sein.“ Sie drückte dem Bruder einen Kuss auf die Wange. „Klar, Kleines. Dann gute Nacht.“ Er schob sich den schwarzen Hut in den Nacken und drehte sich um. Claire selbst lief in das kleine Bad neben den Büro von Marc. Sie öffnete den Spiegelschrank und holte Zahnpasta, Waschlappen und Zahnbürste heraus. Die Haarbürste lag auf der Fensterbank über der Wanne. „Wer hat denn die da hingelegt?“ Leise fluchend kletterte sie über die Wanne hinweg zum Fenster. Es dämmerte leicht draußen und die blutrote Abendsonne warf ihr Licht in das Badezimmer. Am Horizont legten sich gold- orangene Streifen über die Wolken und die Sonne zerfloss mit den Wolken. Claire nahm die Haarbürste und stellte sich vor den Spiegel über dem Waschbecken. Sie riss die Borsten über das blonde Haar, wobei sie es vorsichtig jede verknotete Strähne auseinander zwirbelte. Sie summte ein Lied vor sich hin, während sie zu Schlafen Gehen fertig machte. Haare waschen wollte sie nicht und lies es aus, als sie müde aus dem Bad tapste. Mit kurzen, trippeligen Schritten huschte sie die Holztreppe hinauf zu ihrem Zimmer. Das gesummte Lied immer noch im Ohr, warf sie sich in ihren hellblauen Sommerpyjama. Den hatte sie vor ungefähr anderthalben Jahren zum Geburtstag von Marc bekommen. Der erste Geburtstag ohne ihre Mom Rose und Daddy Hakon. Ein düsterer Geburtstag, wie sie fand. Sie feierte damals nicht, lud lediglich ihre beste Freundin Elin ein und ein paar ungebetene Nachbarn kamen mit Muffins und ein paar Karten mit Geldgeschenken einfach so zu ihrem Geburtstag. Marc hatte den ganzen Tag ein versteinertes Lächeln aufgelegt und jeden Gast –mehr oder weniger erwünscht- freundlich begrüßt und unterhalten. Damals taten das noch ihre Eltern. Sie organisierten Schnitzeljagden und zu Claires 6. Geburtstag einen „Pferdegeburtstag“. Rose fragte ihre Bekannte nach dem Schimmelpony Dancer und dem Shetty Keks. Der beste Geburtstag von allen. Plötzlich kamen die alten Erinnerungen zurück. Der schlimme Unfall, bei denen die Eltern von Claire und Marc starben, die schreckliche Leere, die sie hinterließen gemeinsam mit ihren damals 14 und 20 Jahre alten Kindern. Marc musste damals hart arbeiten, um über die Runden zu kommen. Zum Glück bekam er damals einen guten Auftrag in Süd Afrika, wo er Bilder für eine Zeitschrift machen sollte. Die Firma hatte gut gezahlt und es reichte gerade mal für das Haus. Das wenige Geld, das übrig blieb, legte er an die Seite, bis sie das Geld für eine Auswanderung hatten. Von Europa nach Nordamerika. Natürlich hatten sie noch das viele Geld, das die Wohlhabenden Eltern hinterließen. Marc entschied sich für einen Neuanfang. Ganz im Gegensatz von Claire. Sie war von Anfang an komplett dagegen gewesen. Sie wollte nicht weg von Island. Island war ihr Zuhause gewesen. Hier hatte sie ihre beste Freundin, der sie alle Sorgen erzählen konnte. Aber jetzt? Jetzt war sie in Nordamerika. Weit, weit weg. Hier sollte sie nun bald in die neue High School gehen. Um sich ein wenig bekannt zu machen, hatte sie schon vorzeitig den Job angenommen, bei der Schülerzeitung Artikel zu schreiben.
Sie wischte die Sorgen beiseite und marschierte zu ihrem Fenster. „Schön, nicht wahr?“ Marc stand plötzlich hinter ihr. Mit einem dampfenden Tee in der Hand. Claires Blick fiel auf die orangene Tasse, die ihr Bruder ihr reichte. „Ich wollte doch gar keinen“, sagte sie. Der Bruder zuckte mit den Schultern. „Ich habe dir trotzdem einen gemacht. Hier.“ Sie nahm den Tee an und roch daran. „Riecht gut“, warf sie etwas schlaff ein und nippte daran. „Also, ich gehe dann mal. Gute Nacht.“ Er verschwand wieder aus der Tür und schloss sie vorsichtig. Als die schwere Holztür ins Schloss fiel, seufzte Claire und stellte ihre Tasse auf die weiße Fensterbank. Sie sah noch eine Weile aus dem Fenster, wo die Sonne hinter den blutroten Canyons langsam verschwand. Schon brach die Finsternis in das Land und am Himmel funkelten die ersten Sterne. Am Horizont stand der Halbmond leuchtend über den Bergen. Fast genauso schön wie in Island, dachte das Mädchen und warf sich das Haar über die Schulter. Dann drehte sie sich um, seufzte noch einmal und ging durch das dunkele Zimmer zu ihrem Bett. Sie wollte noch ihren Tee austrinken, aber als ihr Kopf in das eiche Daunenkissen sank, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen wachte Claire recht frühzeitig auf. Ihr Kopf hämmerte stark und ihr war ein wenig übel, als sie die Bettdecke zur Seite strampelte. „Morgen“, sagte Marc fröhlich, als er mit einer Schüssel Rührei und Schinken an den Tisch kam. Seine Schwester setzte sich hin und beäugte den ordentlich gedeckten Tisch. Misstrauisch runzelte sie die Stirn. „Erwarten wir Besucher?“ Marc lachte und drückte seine Schwester. „Im Gegenteil, nur wir beide dürfen an dieser reich gedeckten Tafel speisen“, lächelte er und setzte sich an den Tisch. „Magst du?“ Er streckte ihr grinsend ein gold-braunes Toast entgegen. „Ich habe heute Morgen noch Marmelade gekauft. Hübsches Städtchen. Müsstest du dir mal ansehen.“ Claire zuckte nur mit den Schultern und griff nach dem Toast. „Danke“, sagte sie und tauchte das Messer in das rote klebrige Gelee. Sie klatschte die Zuckerbombe auf den Toast und verschmierte es gleichmäßig. „Schmeckt?“, fragte Marc, doch Claire war abwesend. Ihre Gedanken kreisten um die neue Schule. „He, alles klar bei dir, Kleines?“ Marc schaute sie an, als fielen ihr plötzlich alle blonden Haare raus. Sie kaute langsam ihr Frühstück zu Ende, ehe sie ruckartig aufstand und sich ins Bad begab. Claire duschte schnell und kämmte sich die blonden Haare. Dann schlüpfte sie schnell in eine hellblaue Jeans und zog sich ein grünes Top über. „Nimm schnell deine Schultasche! In fünf Minuten kommt dein Bus.“, rief Marc von der Treppe her zu ihr. Sie flocht sich einen langen Zopf und schulterte sie Tasche. Schnell schlüpfte sie in ihre Sneakers und drückte ihrem Bruder einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Wiedersehen, Süße“, sagte er. Claire winkte ihm einmal zu, als der Schulbus um die Ecke fegte. Sie winkte dem Fahrer zu, der ihr ein kurzes Nicken zuwarf. Dann hielt der gelbe Schulbus quietschend vor ihren Füßen. Die Türen schwangen auf und das neue Mädchen betrat den gut gefüllten Bus. „Du brauchst nicht zu winken. Ich halte immer hier“, warf er ein wenig unfreundlich ein. Sie zeigte ihm den Fahrschein und ging den schmalen Gang entlang. Ein einziger Platz war neben einem blonden Mädchen frei. Also lächelte Claire sie kurz an und setzte sich zu ihr. „Hi“, sagte das Mädchen, das in etwa Claires Alter sein müsste. Und als es lächelte, entblößte es so weiße Zähne, wie sie Claire noch nie gesehen hatte. „Ich bin Chelsea und du? Dich kenne ich noch gar nicht, bist du neu an der High School?“ Claire nickte schüchtern und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, so wie sie es immer tat, wenn sie verlegen war. „Hey, schau mal da!“, rief Chelsea, als der Bus mit einem Ruck an der nächsten Haltestelle hielt. „Pass auf, jetzt kommt Vanessa.“ Sagte Chelsea, die mit ihrer Hand die Worte zu Claire hauchte. Nachdem sie das gesagt hatte, betraten zwei aufgebrezelte Mädchen den Bus. Die eine hatte dunkelbraune gelockte Haare und war anscheinend eine Latina. Das zweite Mädchen hatte hell gefärbte Haare und rehbraune Augen. Sie blieb an dem Sitz von Claire und Chelsea stehen und stemmte die eine Hand in die Hüfte, als sie herablassend zu ihnen sah. „Du bist also die neue?“ Claire lächelte und rechte ihr die Hand. „Mal wieder eine ohne Stil. Manchmal fühle ich mich als einzigste hier, die nicht aus den 40-ern entsprungen ist.“ Sie lächelte hämisch und spitzte die glossierten Lippen. „Komm Lola, wir gehen.“ Sie ging wie auf einem Laufsteg der New York Fashion Week den Busgang entlang und stieß dabei Claires angebotene Hand zur Seite. „Mach dir nichts draus“, sagte Chelsea und zückte einen Handspiegel. „Sie ist immer so.“ Claire seufzte und starrte weiter starr auf den Sitz. Das konnte ja nur ein super Tag werden…
KOMMIS ERWÜNSCHT PLS ^^